Ein Erlebnis in Grenoble

Du hast eine Geschichten geschrieben, möchtest Deine Gedanken mitteilen oder hast ein Gedicht verfasst? Teile gerne Deine Erlebnisse, Gefühle oder Stimmungen mit uns.
Alien

Ein Erlebnis in Grenoble

Beitrag von Alien »

Hallo ! Da ich mal wieder etwas schreiben wollte, beschloss ich, ein reales Reiseerlebnis zu Papier (bzw. zu Bildschirm) zu bringen. Die folgende Geschichte hat sich beinahe exakt so zugetragen, wie ich sie aufgeschrieben habe, ich habe lediglich geringfügige Anpassungen vorgenommen, um den literarischen Fluß des Textes zu optimieren.

Doch genug der Vorrede...


Grenoble ist eine mittelgroße Stadt, die an den französischen Alpen liegt. Sie selbst ist erstaunlich eben, es gibt kaum Hügel oder Steigungen. Ringsherum jedoch ragen bis zu dreitausend Meter hohe Bergmassive auf, die ab Oktober mit Schnee bedeckt sind. Der alte Kern kuschelt sich in eine Biegung der Isere, stellt heute aber nur noch einen recht kleinen Teil der Stadt dar, die, zusammengewachsen mit diversen Nachbargemeinden, das Tal bis an die Berghänge mit Neubauten, Leichtindustrieanlagen, Supermärkten, Kongresszentren und nicht zuletzt der aus Betonklötzen im Stil der siebziger Jahre bestehenden Universität ausgefüllt hat.

Diese Universität war der eigentliche Grund, aus dem ich für einen Monat nach Grenoble gekommen war, genauer gesagt das LAOG -- das astrophysikalische Labor des grenobler Observatoriums -- an dem ich im Prinzip genau das tat, was ich in Jena die ganze letzte Zeit auch getan hatte: meine Doktorarbeit zusammenschreiben. Wahrscheinlich war einfach eine ordentliche Portion Reisegeld für unsere Arbeitsgruppe übrig gewesen.

Einen vierzigminütigen Vortrag über unser Projekt hatte ich in Grenoble auch gehalten. Die französischen Kollegen hatten ihn gut aufgenommen, für Vorträge habe ich nämlich ein gutes Händchen.

Und ja, natürlich hatte ich das ganze auch "touristisch" genutzt -- mir die Stadt angesehen, reihenweise Cafes und Bars ausprobiert und ganze Tsunamis an Rotwein getrunken. Es war an einem der letzten Tage meines Aufenthaltes, als ich im Cafe "Jules Verne" saß, einem zu Ehren des großen Phantasten mit Schiffsmodellen, Karten, Globen, Taucheranzügen und ähnlichem dekorierten Lokal, und mit zwei Gläsern Bordeaux in meinem Bauch über AB-sein, Frauen, Sex, Frankreich und Astrophysik nachdachte.

Mein Blick wanderte durch das sanft beleuchtete Cafe und ruhte sich auf einem außerordentlich hübschen Mädchen aus, das mit seiner Freundin an einem benachbarten Tisch saß. Überhaupt waren die Damen in Grenoble sehr attraktiv, viele Brünette, auch viele Schwarze und Algerierinnen, genau der dunkle Frauentyp, der mir gut gefällt. Das Mädchen am Nachbartisch war allerdings blond.

Ich dachte darüber nach, was passieren würde, wenn ich hinübergehen und die junge Dame auf "Frenglisch", einem Gemisch aus Französisch und Englisch, mit dem ich mich in Grenoble verständlich zu machen pflegte, ansprechen würde. Vermutlich nichts allzu vielversprechendes, denn die Dame warf jetzt einen sehr skeptischen Blick in meine Richtung. Anschließend ließ sie sich von ihrer Freundin fotografieren. Die Freundin war auch recht hübsch.

Ich beschloß, daheim in Jena erneut einen Kurs in Französisch zu belegen. Wenn ich mal wieder in Grenoble war, wollte ich in der Lage sein, ein paar der dortigen Göttinnen anzusprechen. Selbst wenn ich damit nicht sonderlich erfolgreich sein sollte, wäre es doch einen Versuch wert.

In meinem Sprachführer gab es sogar ein Kapitel "Flirten". Aber wie stellten die Autoren des Buches sich das eigentlich vor -- sollte man neben einem hübschen Mädchen sitzen und dabei mit der Nase im Sprachführer mühsam Sätze wie "Vous etes tres belle" zusammenbasteln ?

Mein Blick wanderte zurück zu der jungen Dame. Sie war wirklich außerordentlich hübsch, mit goldener, sanfter, sehr schön anzusehender Haut. Sie wechselte ein paar Sätze mit ihrer Freundin und warf dann erneut einen extrem skeptischen Blick in meine Richtung. Nunja, vermutlich vermochte ein solches Geschöpf sich gewöhnlich vor männlichem Interesse kaum zu retten.

Ich dachte an den manchmal an ABs gerichteten Vorschlag, sein Glück im Ausland zu versuchen. Vielleicht war das im Prinzip gar keine so schlechte Idee. In der Tat hatte ich in letzter Zeit manchmal davon phantasiert, mich als Künstler irgendwo in Mittel- oder Südamerika niederzulassen. Warmes Klima, niedrige Lebenshaltungskosten, schöne Frauen. Aber würde eine heißblütige Latina mit einem leicht aspergoiden Kaltblüter wie mir warm werden ? Allerdings sagt man ja, Gegensätze ziehen sich an. Außerdem kann ich inzwischen ganz gut tanzen, was Latinas ja angeblich zu schätzen wissen.

Vorläufig war ich nicht in Südamerika, sondern in Südfrankreich. Einem Land, das der in AB-Kreisen recht bekannte Michel Houellebecq als eine menschlich desolate Vorhölle aus zerfallenden Städten, frustrierenden Arbeitsbedingungen und nicht stattfindendem Sex darstellt. Diese Einschätzung vermochte ich nach meinen bisherigen Erfahrungen nicht zu teilen, zumindest nicht komplett. Mir kam Grenoble recht idyllisch vor; zumindest der innere Stadtteil erschien mir wie eine verträumte kleine Gemeinde an einem Fluß zwischen weißen Berggipfeln, die von Studenten, Gastwirten und schönen Frauen bevölkert war. Sex hatte ich dort allerdings wirklich keinen gehabt.

Außer schönen Frauen stellten vermutlich Nerds einen verblüffend hohen Teil der grenobler Bevölkerung. Jedenfalls gab es eine Straße, die ich inoffiziell "Nerd-Meile" getauft hatte, da sie eine Mangabuchhandlung, eine Anime-Videothek, einen Gaming-Laden und ein Comicgeschäft enthielt. In besagtem Comicgeschäft gab es außer frankobelgischen Linie-Claire-Werken, amerikanischen Superheldengeschichten, und den merkwürdigen psychedelischen (Alp-)Träumen von Jodorowski und Konsorten auch Erotikcomics, die in Deutschland vermutlich nur unter der Ladentheke verkauft werden würden. Beim Durchblättern des Albums eines italienischen Künstlers namens Manara war mir in einer Sprechblase ein denkwürdiger Satz aufgefallen, der durchaus Anwendungspotential im realen Leben hatte: "Je ne voudrais pas boire, je voudrais baiser." (Kleine Übersetzungsaufgabe für alle) Zuweilen kommt es auch vor, dass ich Lust auf beides gleichzeitig habe.

In dem Laden arbeitete überraschenderweise eine hübsche junge Frau, und kein übergewichtiger, pizzaschlingender Vierzigjähriger mit Pferdeschwanz, wie der zeichentrickkundige Medienkonsument sich das heutzutage vorstellt. Ich hatte kurzzeitig darüber nachgedacht, wie sie reagiert hätte, wenn ich mit dem Manara-Album zur Kasse gegangen wäre. Vielleicht wäre sie errötet. Oder hätte mich angegrinst. Oder hätte das Album sang- und klanglos eingepackt, business as usual. Ausprobiert hatte ich das nicht, denn Geld ausgeben und meinem Gepäck unnötiges Gewicht hinzufügen, nur um ein paar Zeichungen von kopulierenden Personen mein Eigen zu nennen, wollte ich dann doch nicht.

Um gedanklich kurz auf der Nerd-Meile zu verweilen: Während der ersten Woche in Grenoble hatte ich mich mit einem aus Deutschland eingetroffenen Kollegen über Warhammer 40k unterhalten. Damals kannte ich noch nicht besonders viele Lokale in Grenoble, wir waren daher in ein italienisches Restaurant gegangen, dass der Kollege von einem früheren Grenoblebesuch her kannte. Leider war dieses Restaurant weder besonders gut noch bequem -- es sei bemerkt dass Physiker mehrheitlich einen furchtbar schlechten Spürsinn für das Aussuchen von Einkehrmöglichkeiten besitzen. Während des Essens hatten wir uns erst über "Dune" von Frank Herbert unterhalten, ein Buch, dessen vierten Fortsetzungsband der Kollege gerade las. Darüber waren wir auf die Frage zu sprechen gekommen, weshalb in den meisten Science-Fiction-Geschichten die Menschheit ihr Imperium nur auf das Milchstraßensystem ausdehnt und nicht auf irgendwelche Nachbargalaxien. Dies hatte mich zu der Bemerkung gebracht, dass das Imperium in Warhammer 40k bereits in der eigenen Galaxis soviel Ärger habe, dass es gar nicht auf den Gedanken komme, andere zu erobern.

"Du hast dir doch mal Warhammer-40k-Figuren gekauft", meinte der Kollege. "Hast du es schonmal gespielt ?"
"Äh, nein", antwortete ich. "Irgendwie sehe ich ehrlich gesagt keinen Sinn darin, ein Hobby auszuüben, bei dem man mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit keine Frauen kennenlernt."
"Ach, ganz so ist das nicht. Da gibt es schon Frauen."
"Aber ihnen zu begegnen ist in etwa so wahrscheinlich, wie dass das Weinglas hier sich abkühlt und in die Luft springt, was ?"
"Nicht ganz. Die Tabletoplerszene ist recht eng mit der Rollenspielerszene verquickt. Und da habe ich mal eine Runde kennengelernt, in der zwei hübsche Mädels waren. Hat mir leider nichts genützt, weil ich zu schüchtern bin."
War der Kollege etwa AB ?! Diskreterweise beschloss ich, ihn nicht zu fragen. Er war Rollenspieler und Heavy-Metal-Fan, eine Kombination, die unter ABs ja nicht ganz selten ist.
Er schien jedenfalls recht zu haben: Als ich später an schon erwähntem Gaming-Laden vorbeilief, stand in ihm zumindest eine einzelne Dame.
Dennoch sollte ich wohl aufhören, über Warhammer 40k und verwandte Themen zu schreiben, da sonst die meisten Frauen und alle, die ein eher distanziertes Verhältnis zu "Nerdkram" haben, frustriert das Lesen einstellen. Kehren wir also ins "Jules Verne" zurück.

Ich überlegte, ob ich heute abend noch irgendetwas unternehmen sollte. Normalerweise bin ich jemand, der lieber in ein gemütliches Cafe oder eine Bar geht, als in einen Club oder eine Diskothek. In Grenoble hatte ich bei meinen gastronomischen Streifzügen eine sehr hübsche Kneipe entdeckt, in der der Wirt mit einem Freund zusammen Gitarre spielte und sang, wobei ihn das Publikum laustarkt begleitete. Dort hatte es mir richtig gut gefallen. Meine einzige Befürchtung war gewesen, von einer korpulenten, zirka sechzigjährigen Dame, die dauernd interessierte Blicke in meine Richtung warf, zum Tanzen aufgefordert zu werden. Vermutlich hätte ich höflichkeitshalber nicht nein gesagt. Man verstehe mich nicht falsch, ich habe nichts gegen Personen der älteren Generation, aber beim Tanzen mit einer stämmigen grauhaarigen Dame wäre ich mir irgendwie... eigenartig vorgekommen.

Ich wurde jedoch nicht aufgefordert, und so saß ich glücklich in der Bar, hörte dem Wirt bei seinen französischen und amerikanischen Liedern zu und beglückte meine inneren Organe mit Rotwein, der heilenden Milch aus den Brüsten der Marianne. (Verkörperung Frankreichs)

Vielleicht sollte ich heute abend wieder in dieses Lokal gehen. Oder sollte ich zur Abwechslung einmal waghalsig sein und das "London Pub" besuchen, eine Musikkneipe, die vorwiegend von Studenten und Leuten unter dreissig besucht wurde, und zuweilen auch als Veranstaltungsort für Erasmuspartys diente ? Für alle, die nicht wissen, was Erasmuspartys sind: Es handelt sich um von der Studentenaustauschorganisation "Erasmus" veranstaltete Partys, die dafür bekannt sind, von "Alphas" als Frischfleischtheke genutzt zu werden. Den offensichtlichen Witz bezüglich der zweiten und dritten Silbe des Namens "Erasmus" spare ich mir jetzt. Hihi, jetzt habe ich ihn indirekt doch gemacht.

Zunächsteinmal hatte ich Hunger. Nach einem letzten sehnsüchtigen Blick in Richtung meines goldhäutigen Objekts der Begierde, der abermals mit einer Skepsissalve aus dem Zwillingslasergeschütz der schönen Augen der Dame quittiert wurde, zahlte ich, verließ das "Jules Verne" und machte mich auf die Suche nach einer Dönerbraterei. Diese sind in Frankreich fast ebenso verbreitet wie in Deutschland. Ich fand eine und bestellte mir einen Döner und einen Eistee. Während ich solcherart speiste, unterhielt sich der Dönerverkäufer mit jemandem am Handy. Dabei wurde er zusehends ärgerlich, unterbrach schließlich wütend die Verbindung und rief "Beach !" Er meinte wohl ein ähnliches Wort mit kurzem "i", das er jedoch französisch gedehnt aussprach.

Irgendwann fanden der Verkäufer und sein Freund, der auch hinter der Theke arbeitete, heraus, dass ich "Allemand" sei. Dies freute den Freund. Er konnte etwas Deutsch, und versuchte nun, dieses an den Mann zu bringen. Er habe mal in Münster gelebt, erzählte er. Er fügte auch hinzu, dass Deutschland sehr "prop" sei. Um die Bedeutung des Wortes zu verdeutlichen, wischte der Verkäufer den Tisch ab: Jetzt sei die Oberfläche "prop". Achso, sauber. Ich erläuterte, dass es in Deutschland an manchen Stellen sauber, an anderen weniger sauber sei und dass das ganze bei weitem nicht so sauber sei wie die Schweiz, aber die Sprachkenntnisse meines Gesprächspartners reichten nicht ganz aus, um meiner Argumentation zu folgen.

Ich beendete mein recht fettiges Mahl, und ging in die kalte Nachtluft hinaus. Inzwischen war es nach Mitternacht. Ob das "London Pub" überhaupt noch geöffnet hatte ? Es war immerhin ein Wochentag.

Es hatte noch geöffnet. Ein lustiger Typ, der eine Art Uniform mit Goldknöpfen trug, bugsierte mich durch den Eingang, der wie eine Luftschleuse aus einer Doppeltür bestand. Das Pub war mäßig voll, die Musiklautstärke erlaubte eingeschränkte Unterhaltung. Ich setzte mich an die Theke und bestellte ein großes Bier. Wie dem aufmerksamen Leser dieser Zeilen wohl schon aufgefallen sein wird, je prefere vin, aber der Name und die Gestaltung des "London Pub" wirkten nicht wirklich französisch und ein Glas Wein hätte hier so gut hergepasst wie ein Kondom in den Vatikan.

Es dauerte nicht lang, und ich wurde von einem Typen angequatscht, der neben mir saß. Er konnte kaum Englisch und kein Deutsch, dennoch brachten wir soetwas wie eine Unterhaltung zustande. Ich erfuhr, dass er Marcel hieß. [Lieber französischer Kneipenbekannter: Falls du zufällig im Internet diese Zeilen liest -- ich habe deinen wirklichen Namen nicht vergessen, ich dachte aber, dass du vielleicht nicht willst, dass ohne deine Einwilligung Geschichten über dich veröffentlicht werden. Daher habe ich deinen Namen geändert. Natürlich ist es nicht wahrscheinlich, dass du die Geschichte liest, da du kein Deutsch kannst. Aber vielleicht übersetzt sie dir jemand.] Außerdem erzählte ich ihm, dass ich an der Universität arbeite und Physiker sei. Daraufhin brabbelte er munter auf mich ein, ohne dass ich viel verstand. Er mochte etwas jünger sein als ich. Auch schien er schon das eine oder andere Glas intus zu haben. Dann und wann erwähnte er das Wort "Nightclubbing".

Schliesslich kam der Wirt vorbei, sagte auf Englisch "We are closing" und drückte mir einen Plastikbecher für mein verbleibendes Bier in die Hand. Ein nette Geste, die ich sonst noch nirgends gesehen hatte. Ich füllte das Bier um und verließ mit meinem neuen Freund im Schlepptau das "London Pub". Draußen lehnte ich mich an eine Brüstung und trank mein Bier, während Marcel weiter auf mich einredete und zuweilen das Wort "Nightclubbing" fallen ließ.

Er machte sich bald auf den Weg in Richtung Theatervorplatz, und ich, da ich nichts anderes zu tun hatte und auf ein kleines Abenteuer Lust hatte, folgte ihm. Auf dem Theatervorplatz wartete Marcel, bis ich mein Bier geleert hatte, wobei er munter weiterbrabbelte. Ein Trüppchen junger Damen, das vorbeikam, wurde von ihm stürmisch begrüßt, worauf die Mädchen jedoch nicht reagierten.

Nachdem ich meinen leeren Becher weggeworfen hatte, folgte ich Marcel in eine Seitenstraße, wo er an einer Tür klingelte, hinter der sich ein "Nightclub" verbarg. Ich war baff. Ich hatte nicht gewusst, dass es Lokalitäten gab, an denen man klingeln musste, um eingelassen zu werden. Ich erwartete etwas zutiefst verruchtes, zumindest irgendetwas mit unbekleideten Damen. Dies entsprach nicht der Realität. Ein verhutzeltes Männlein öffnete uns und führte uns, nachdem Marcel "deux personnes" angekündigt hatte, ins Innere. Es handelte sich um ein recht normales, schick eingerichtetes und blau ausgeleuchtetes Lokal mit einer Theke und mehreren Sitzgruppen. Da und dort standen Grüppchen von Personen veschiedenen Alters, quasselten miteinander, kabbelten sich, Mann und Weib flirteten, kurz, eine gewöhnliche Barsituation ! Marcel und ich nahmen Platz an der Theke, er lud mich zu einem Bier ein. Während ich das frisch-bittere Naß hinunterkippte tastete er wiederholt mit offensichtlich Faszination eine Eissäule ab, in die der Bier-Zapfhahn eingelassen war. Diese haptische Empfindung schien Marcel zu begeistern.

In meinem Kopf begann sich ein warmer Nebel auszubreiten. Eigenartigerweise werde ich von Bier rascher betrunken als von Wein. Oder vielleicht liegt es nur daran, dass man Bier für gewöhnlich schneller trinkt...

In einer Ecke saß apatisch ein vermutlich völlig besoffener Typ mit Rastazöpfen. Marcel ging hinüber, weckte den Kerl und unterhielt sich mit ihm. Bald winkten mich die beiden hinüber. Ich setzte mich an ihren Tisch. Überrascht musste ich feststellen, dass der Rastatyp Deutsch sprach -- beziehungsweise Bayrisch. "I bin a Bayer" sagte er nicht ohne Stolz. Inzwischen hatte Marcel auf mehreren Tischen kleine rotleuchtende Kunststoffwürfel erspäht. Diese schienen es ihm angetan zu haben, er ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden. Als der Wirt sah, dass die Würfel fehlten, ersetzte er sie durch neue. Marcel steckte auch diese ein, und vermachte mir einen als Geschenk. Gerührt nahm ich ihn an mich.

Marcels ansteigender Alkoholpegel versetzte ihn in Tanzlaune. Er fing an, zwischen den anderen Gästen herumzuschwofen. Allerdings fühlte sich anscheinend niemand davon angesteckt. Als ich vom Klo zurückkam, beschloss mein neuer Freund, eine andere Lokalität aufzusuchen. Wir ließen den betrunkenen Bayern zurück und gingen einige Straßen weiter, wo Marcel an der Tür eines "Private Club" klingelte. Anstelle der in Bomberjacken gekleideten Orks, die in Deutschland meist solche Orte bewachen, öffnete uns wieder ein recht zierliches Wesen und lotste uns hinein. Es handelte sich um eine Diskothek.

Marcel stürmte sofort auf die Tanzfläche. Ich marschierte erst einmal zur Bar, und bestellte mir einen "Vodka Orange", ein Getränk, das mir irgendwie für eine Diskothek passend erschien. Der Preis ließ mich etwas zusammenfahren, er betrug "Dix Euro". Aber gut, in Grenoble ist alles etwas teurer als in Jena, und in Clubs wahrscheinlich nochmals etwas teurer als anderswo. Mit meinem kostbaren Getränk in der Hand ging ich in den hinteren Bereich des Clubs, wo Marcel sich derweil die Seele aus dem Leib tanzte.

Das Lokal war, schließlich war es ein Wochentag, nur mäßig besucht. Auf der Tanzfläche tobten einige Typen und Mädchen herum, höchstwahrscheinlich alle jünger als ich. Marcel hatte eine Art Podest erstiegen, auf dem, nach Art einer Stripteasebühne, zwei senkrechte Stangen montiert waren. Darauf tanzte und sprang und schwofte er wild herum, wobei ihm ein Mädchen in einem umhangartig weiten T-Shirt Gesellschaft leistete. Bis zu einem gewissen Grad erinnerte mich Marcels Tanzweise an eine weibliche Stripperin. Er führte mit der Dame eine Art inversen "Doggy Dance" auf, das heißt, sie hinten und er vorne. Falls ihr nicht wisst, was ein "Doggy Dance" ist: lasst eure Phantasie walten.

Ich bin eigentlich ein "klassischer Tänzer", in der Tanzschule besuche ich inzwischen den Bronzekurs. Besonders gern tanze ich dabei Tango und Langsamen Walzer. In einem Club waren solche manierlichen Fähigkeiten natürlich fehl am Platze. Doch nachdem der Wodka Orange die richtigen Teile meines Zentralnervensystems lahm gelegt hatte, machte sich der Rest meines Körpers selbstständig und ich groovte über die Tanzfläche.

Mit Diskos und Partys ist es ja, wie alle ABs wissen, so eine Sache. Viele finden sie frustrierend, da sie, tanzend oder auch nicht, von dem anderen Geschlecht einfach nicht wahrgenommen werden. Dies war auch der Grund, warum ich nach einem einmaligen Versuch den Besuch von Erasmuspartys aufgegeben hatte. In der grenobler Disko lag der Fall jedoch anders. Bier, Wodka und Musik vereinigten sich in meinem Kopf zu einem angenehmen Dunst, der mich einhüllte und in dem ich mit traumhafter Leichtigkeit herumschwofte, während mir die anderen Tänzer wie merkwürdige, freundliche Wesen erschienen. Irgendwie waren es plötzlich die anderen, die etwas Außerirdisches an sich hatten. Bunte Lichtstrahlen und gelegentliche Salven der Nebelkanone katapultierten die ganze Szenerie in der Tat in den Weltraum. Meinem Kneipenfreund Marcel war es gelungen, mehrere Damen an sich zu ziehen, mit denen er sich auf dem Podest austobte.

Mir wurde rasch warm. Ich zog meinen Pullover aus und machte mich auf den Weg zurück zur Bar, um einen White Russian zu trinken. Allerdings hatte die Ausschankdame von diesem Getränk noch nie gehört, wie ich erfuhr, gab es hier überhaupt keine Cocktails. Schade ! Ich bestellte mir mangels anderer Ideen einen zweiten Wodka Orange und ließ mich wieder von Musik und Licht tragen.

Irgendwann wurde ein Mäuschen auf mich aufmerksam. Ein putziges schwarzhaariges Wesen mit heller Haut. Das Geschöpfchen tanzte mir eine Zeitlang auf der Nase herum, bevor es sich kurzentschlossen umdrehte und sein Hinterteil an meinem Schritt rieb.

Für einen typischen Alpha mag dies eine relativ alltägliche Erfahrung sein, für einen AB ist es indessen zwar vielleicht noch kein Meteoreinschlag, aber doch eine mittelgroße hormonelle Kernexplosion. Ich war jedenfalls ziemlich baff als ich die weichen hinteren Abrundungen des Geschöpfchens plötzlich an einer nichtöffentlichen Stelle spürte.

Ich weiß nicht, ob es meine vergleichsweise beträchtliche Größe war, der Altersunterschied oder die Tatsache, dass aus meinen Augen der typische AB-Hungersturm sprach. Das kleine Wesen schien sich ein wenig über sein eigenes Tun zu erschrecken und flüchtete zu einer Freundin.

Ein Typ sagte etwas auf Französisch zu mir. Auf mein "Je ne comprend pas Francais" schaltete er auf bruchstückhaftes Englisch um. Er erkundigte sich wo ich herkäme. Mit Jena konnte er nichts anfangen. "C`est un ville Allemand", erklärte ich. "Ah. Dis girl -- very easy !" Diese Aussage bezog sich auf das schwarzhaarige Geschöpfchen, das nun herantanzte und mir mit gespielter Überschwenglichkeit die Hand schüttelte.

Ganz so "easy" war sie wohl doch nicht. Sie hatte sich wohl selbst Furcht vor mir eingejagt, und hüpfte mit mehreren Freundinnen auf einem der Podeste herum, während ich mich wieder dem autistischeren Vergnügen des Einzeltanzes inmitten von Licht und Nebel hingab.

Das Mäuschen hatte inzwischen meine Kneipenbekanntschaft Marcel entdeckt und umschwofte ihn zusammen mit ihrer Freundin. Ich beschloss, mein Glück zu versuchen und erklomm das Podest, auf dem die drei herumtobten. Mäuschen kreischte auf und flüchtete hinter einen Pfeiler. Für ein paar Sekunden wagte sie es, mir ein ziemlich verführerisches Tänzchen darzubieten, dann huschte sie zu ihren beiden Mittänzern zurück.

Okay, mein Versuch, die Kampfzone ein Stückchen auszuweiten war gescheitert, aber ich wollte triumphal, quasi mit wehender Flagge, aufgepflanztem Bajonett und der Marseillaise im Hintergrund, abziehen und nicht als Verlierer. Daher gab ich auf dem Podest der Menge eine kleine Kostprobe meiner Tanzkünste, winkte allen zu und sprang wieder herunter.

Der Club hatte sich doch noch etwas gefüllt. Ein hübsches Mädchen, das recht wenig anhatte, zog meinen Blick auf sich. Leider war ihr Bauchnabel verdeckt. Auch Mäuschens zentrale Vertiefung hätte ich übrigens gerne gesehen. Nun gut, von der hätte ich sowieso gerne noch viel mehr gesehen. Aber das kleine Wesen war inzwischen verschwunden.

Marcel vergnügte sich derweil mit zwei neuen Damen, die er etwas beschmuste, woraufhin sie ein Foto von ihm machten. Er hüpfte zurück auf sein Podest, und machte nun tatsächlich Anstalten, sich auszuziehen. Zum Glück ging er nicht über das Anheben seines T-Shirts hinaus.

Mit der Zeit begannen die Gäste nachhause zu gehen. Ich setzte mich zum Ausspannen in den Barbereich, Marcel kam herüber und erkundigte sich, ob ich "fatigue" sei. "En petit peu", antwortete ich. Wir beschlossen, aufzubrechen. Am Eingang aber traf Marcel auf einen dicken älteren Typen, der möglicherweise der Besitzer des Clubs war oder sonst irgendeine Exekutivfunktion innehatte. Er lud uns zu je einer Rum-Cola ein. Die beiden unterhielten sich auf Französisch, während ich verträumt beobachtete, wie das Personal die verlassene Tanzfläche fegte und aufräumte.

Zu dritt gingen wir auf die Straße. Marcel hielt mir sein Handy hin, da er meine Telefonnummer wissen wollte. Die meiner Unterkunft in Grenoble kannte ich nicht auswendig (und ich würde sowieso am darauffolgenden Tag abreisen), daher tippte ich meine Nummer in Jena ein. Irgendwann kommt Marcel vielleicht auf die Idee, die Vorwahl von Deutschland davor zu schalten, dann kann er mich anrufen. Möglicherweise spät nachts, nach dem einen oder anderen Glas...

Marcel und der dicke Typ riefen sich ein Taxi. Ich leistete ihnen beim Warten Gesellschaft und betrachtete die Sterne über den Dächern. Marcel sagte irgendetwas von "German Girls" zu mir. "Ich werd sie von dir grüßen", erwiderte ich auf Deutsch. Marcel und sein dicker Freund veranlasste dieser Satz, den sie nicht verstanden, zu Heiterkeitsausbrüchen. Den Klang der deutschen Sprache fanden sie wohl zum Brüllen komisch.

Zuguterletzt wurden die beiden von ihrem Taxi davongetragen, vermutlich einem langen wohlverdienten Schlaf entgegen, der Marcels Körper die Möglichkeit geben würde, eine beträchtliche Menge Ethanolmoleküle zu spalten. Ich machte mich zu Fuß auf den Weg zu meinem Gästezimmer, das etwa zwanzig Minuten entfernt lag.

In meinem Kopf herrschte ungewöhnlicher Frieden. Das ganze Cluberlebnis hatte irgendwie alle störenden und chaotischen Gedanken aus meinem Gehirn geblasen. Ich fühlte mich, wie man sich manchen zufolge nach einer Meditationssitzung fühlt.

Mir fiel ein, dass eigentlich die Skorpione, die urtümlichsten aller Spinnentiere, das Tanzen vor über hundert Millionen Jahren erfunden haben. Wenn zwei Skorpione sich paaren wollen, fassen sie sich mit den Zangen an und tanzen vor und zurück. Nicht nur haben sie es erfunden, es dient ihnen zum gleichen Zweck wie den Menschen: Die Suche nach einem Bettgenossen.

Weiterhin ging mir auf, dass die Tanzaktivitäten mancher Clubbesucher nur schwer vom Balzverhalten eines Wellensittichs zu unterscheiden sind. Mein Bewußtsein kreiste lansgam und friedlich um den Themenkomplex "Natur, Tiere, Fortpflanzung, Sex".

Unter solchen Betrachtungen erreichte ich mein Gästezimmer. Leise, um meine Wirtin nicht zu wecken, schlich ich in die Wohnung, putzte mir die Zähne und legte mich zu einem erholsamen Schlaf nieder. Das Verblüffende an den sogenannten Alphas besteht darin, dachte ich, während die Dunkelheit mich einhüllte, dass sie eigentlich gar nichts besonderes machen, um Frauen anzuziehen. Die Damen werfen sich mehr oder weniger spontan auf sie. Dann kam der Schlaf wie eine lange, stille Meereswelle. Ich schloss die Augen und sah in eine ungeborene und schemenhafte Welt hinein, die geordnet und gebildet sein wollte, in ein Gewimmel von Schatten menschlicher Gestalten, die mir winkten, daß ich sie banne und erlöse: tragische und lächerliche und solche, die beides zugleich waren, – und diesen bin ich sehr zugetan. Aber meine tiefste und gar nicht besonders verstohlene Liebe gehört den Mäuschen, die mit wenig Kleidung und viel Perfum mit ihrer besten Freundin spätabends zum Feiern in den Club gehen. Schelten Sie diese Liebe nicht, sie ist gut und fruchtbar. Sehnsucht ist darin und schwermütiger Neid, keine Verachtung, aber eine ganze Seligkeit, die keusch zu nennen falsch wäre.

PS: Einfach zu blöd, dass ich den Bauchnabel des Mäusis nicht zu sehen bekam...