Wehmut im Paradies - ein etwas anderer Reisebericht

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ish78

Wehmut im Paradies - ein etwas anderer Reisebericht

Beitrag von ish78 »

Wenn man alleine unterwegs ist, sitzt man abends in einem Restaurant, einsam an seinem Tisch, umringt von einer Horde Pärchen, die sich verliebt anschauen, sich angeregt unterhalten, und weil man zwar nicht unbedingt schüchtern, aber trotzdem eher zurückhaltend ist, traut man sich nicht, sich einer Gruppe anzuschließen. Tagsüber verhindern Aktivitäten und Erlebnisse auf der Reise weitestgehend das Nachdenken über das Alleinsein. Man genießt sie manchmal regelrecht, die Einsamkeit, an einem einsamen Ort ohne Menschen, oder allein in einer Armee aus Fremden. Man sitzt da und sieht in die Welt, die da an einem vorbeizieht. Eine fremdartige und doch so nahe Welt, weit weg von zu Hause.

Es geht. Sogar ganz gut. Aber etwas fehlt.

Man möchte so viel sehen von dieser Welt, so viel entdecken und erleben. Jeden Tag in seinem täglichen Leben, das zwar, zumindest im Job, herausfordernd und spannend, aber dennoch weitestgehend gleichartig verläuft, wünscht man sich einen Kick Fremdartigkeit, einen A-Tritt Aktivität, einen Schubs ins Unbekannte. Und kann sich nicht aufraffen, sich selbst so einen zu verpassen.

Man irrt durch die Monate, die Kollegen und die wenigen Freunde, allesamt verpartnert, machen Urlaub, gehen weg am Wochenende, man möchte weg, aber man hat keinen Plan. Alleine? Schon wieder?

Ein Wochenende jagt das nächste, man könnte sie fast abzählen, eins zwei drei vier, wie die Boliden auf einer Rennstrecke jagen sie an einem vorbei. Und dann, an einem weiteren einsamen Wochenende, den Kater schnurrend an der Seite, fasst man einen Entschluss und bucht einen Flug. Kuala Lumpur. Malaysia. Einfach so.

Das Selbstbewusstsein erhält den Kick, den es brauchte und kommt langsam wieder in Fahrt. Wer braucht schon jemanden zum Verreisen? Führt derjenige, der auf das Leben seiner Träume verzichtet, nur weil er niemanden findet, nicht ein armseliges und trostloses Leben? Letztlich ist man immer noch sich selbst der Nächste und sollte das Leben leben, das man sich wünscht. Ob mit oder ohne Partner. Alle Anforderungen sind ohnehin nie erfüllt.

Und dennoch... meldet man sich auf einer Reisepartnerseite im Internet an und findet nach einigen Wochen, in denen alle Kontakte im Sande verlaufen, eine zehn Jahre jüngere Frau, gerade mal 20, vom Bild her sehr ansprechend, die auch noch Interesse bekundet, zehn Tage gemeinsam mit einem durch Malaysia zu ziehen. Sofort wird man aktiv. Man fragt nach der Telefonnummer, telefoniert zweimal über eine Stunde lang vor der Abreise. Man lacht sehr viel, versteht sich blendend, sie verliert die Angst vor dem Alter, weil sie merkt, dass der Einunddreißigjährige eher wie Fünfundzwanzig wirkt. Man verabredet sich auf einen bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit am Fährhafen in einem kleinen Ort an der Ostküste.

Das Leben hat wieder eine spannende Komponente. Ab und zu drängen sich Zweifel in die Phantasien. Was, wenn sie doch nicht sympathisch ist? Was wenn sie nicht mit einem kann und die Freundlichkeit nur heuchelt? Was wenn sie einengt, herumzickt, nicht mitmachen möchte, was einem selbst am meisten Freude bereitet? Die einfache Antwort meißelt man sich ins Gehirn: Man muss den Mut fassen, sich zu trennen, alleine weiter zu reisen. So wie es gewesen wäre, ohne die Segnungen der Internet-Communities. Optimismus vor. Es wird schön werden!

Nach zwölf Stunden Flug die Ankunft in Singapur. Zweieinhalb Tage im Inselstaat. Großtstadt. Viel Leben. Viel Laufen. Alleine. Man versucht mit anderen Backpackern im Hostel zu reden, doch die meisten ziehen sich schnell wieder in die Schneckenhäuschen ihrer Gruppe zurück. Ganz alleine sind nur wenige. Viele wollen es auch bleiben. Dennoch ist man frei, kann tun und lassen, was man will. Ungebunden, meistens ziellos, das neue Land erleben. Ja, man wird auch manchmal bewundert, wenn man alleine reist. Die meisten hätten nicht den Mumm dazu. Gut fürs Gemüt. Und dennoch... fehlt etwas. Vor allem, wenn man abends im Restaurant sitzt und in die Leere starrt, während man auf sein thailändisches Curryhühnchen wartet. 10.000 km weg von zu Hause.

Ein Bus von Singapur nach Malaysia. Vier Stunden später Ankunft am Treffpunkt. Sie braucht noch drei Stunden. Man wartet. Man irrt umher. Man isst. Man knuddelt mit Straßenkatzen und denkt an den Kater, der zu Hause wartet - immerhin einer, der wartet! Und dann, im Cafe, einen Mangosaft schlürfend, steht sie da, mit ihrem großen Rucksack, sie lächelt, man lächelt zurück, ein bißchen unsicher, und wird von der optimistischen Gewissheit überrannt, dass die folgenden Tage gefühlsmäßig ganz anders verlaufen werden.

Die erste Nacht im Bretterverschlag, das sich Hostel nennt, die Betten notdürftig mit der Sprühdose desinfiziert. Keine Klimaanlage wie in Singapur, nur ein rauschender Ventilator. Es ist heiß, die Betten sind unbequem, man kann nicht schlafen. Doch sie ist glücklicherweise völlig unkompliziert. Kein Problem damit, mit nem Mann im gleichen Zimmer zu schlafen. Kein Problem mit etwas fragwürdigeren hygienischen Zuständen. Keine Tussi. Auch nicht das Gegenteil mit Haaren unter den Achseln. Zum Glück!

Man reist gemeinsam die Ostküste hoch, durchquert muslimische Städte, isst einheimisches Essen, und landet auch mal in einer Karaokebar, in der niemand ist außer einer verrückten kleinen dicken Frau, die wie im Drogenrausch singt und tanzt und sich totlacht, wenn man Malaysisch singt. Die Reisepartnerin ist kein Partymensch. Man verschwindet gemeinsam, setzt sich an den ruhigen Strand, redet ein wenig, genießt die Ruhe. Es fühlt sich ganz natürlich an. Sie muss nicht ständig reden. Man fragt sich, ob sie einen sympathisch findet. Man achtet auf Zeichen, die man nicht findet. Man merkt verstärkt, wie wenig Erfahrung man mit Frauen hat.

Ein bißchen später landet man gemeinsam auf Perhentian im Nordosten. Ein Paradies im Meer. Weiße Strände, klarblaues Kristallwasser, tiefgrüner Dschungel, riesige Palmen, gigantisches Wetter. Und kleine Hütten, direkt am Strand, für wenig Geld. Nur Doppelbetten. Keine Wahl. Am ersten Abend sagt sie, sie hätte noch nie mit einem Mann, den sie erst seit drei Tagen kenne, im gleichen Bett geschlafen. "Mir gehts genauso", sagt man und grinst und stopft sich ins Schlafsack-Inlay. "Gib mir nen Tritt, falls mein Unterbewusstsein anschmiegsam wird." Nichts passiert.

Früh aufstehen, man ist nicht zum Faulenzen hier. Bermuda-Shorts, Sonnencreme für den weißen Körper, Schnorchelausrüstung. Sie im knappen Bikini. Darüber ein kurzes Höschen. Scheiße, sie ist so sexy. So perfekt. So jung. Wunderschön in jeder Hinsicht. Man schnorchelt gemeinsam durch Schwärme bunter Fische, erklimmt mutig Felsen am Ufer, erholt sich an einem kleinen einsamen Strand. Ertappt sich dabei, wie man ihr hinterher schwimmt und sie anstarrt, weil sie so verdammt sexy ist. So nah und fern zugleich. Man zwingt sich, ganz normal zu bleiben, sein Ding zu machen. Nichts wirkt abstoßender als Aufdringlichkeit. Es klappt ganz gut. Und dennoch wirkt es manchmal wie Psychoterror. Jeder denkt, man sei ein Paar. Manche mögen gar neidisch sein. Die Realität, so oft anders als ihr Schein.

Am nächsten Tag wieder früh auf. Aktivität! Den Dschungel durchqueren, die Insel umrunden, an der Küste entlang. Allein zu zweit. Herrlich! Sie ist wie ich, möchte alles sehen und erleben, abseits ausgetretener Touristenpfade, fühlt sich in der Einsamkeit wohler als in der Menge. Natur vor Stadt, Ruhe vor Trubel.

Ein Abend am Strand. Funkelnder Sternenhimmel. Sie interessiert sich nicht dafür. "Da oben ist der Schwan und da hinten ist Jupiter" -- "Hast du das etwa gerlernt, um bei Frauen zu landen?" -- "Nein... damit kann man heutzutage keine mehr beeindrucken."
Meeresrauschen. Ein Gewitter am Horizont. Man redet. Landet irgendwann bei den Beziehungen. Scheiße. Man fühlt sich so leer und unbeholfen. Man erfindet was. Erfindet Freundinnen, um nicht wie ein Loser dazustehen. Lässt ein bisschen Realität einfließen. Letzte Beziehung vor über sechs Jahren, seither Single, seither keine Frau mehr. Selbst das scheint ihr fremd. Hätte sie einem nicht zugetraut. Immerhin!

Dagegen sie mit ihren süßen zwanzig Jahren, mittlerweile der dritte Freund, der zu Hause wartet. Ein Monat vor Malaysia zusammen gekommen. Sie macht nicht den Eindruck ihn zu vermissen. Meint, er hätte überhaupt nichts von dem Traummann in ihrem Kopf. Kann sich nicht vorstellen, mit ihm zu verreisen oder länger als während des Studiums mit ihm zusammen zu bleiben. LAG schon vorprogrammiert. "Hast du ihm das auch so gesagt, damit er sich keine falschen Hoffnungen macht?" -- "Nein... nicht so direkt."
Sie behauptet, noch nie in eindeutiger Weise angeflirtet worden zu sein. Nicht glaubwürdig. Sie scheint Beziehungen noch sehr oberflächlich zu sehen. "Du hältst dir einen Sexsklaven, gibs zu." Sie lacht. Scheint was dran zu sein. Immerhin zählt sie "Sex" zu ihren Hobbies. Klingt oberflächlich und naiv, man müsste mitleidig lächeln, aber dennoch wirkt so etwas wie ein Stich ins Herz bei einer männlichen Jungrau mit einunddreißig Jahren. Man erfährt, was man verpasst. Die zuckersüße Vergangenheit, so wie sie hätte sein können, sitzt nebenan und ist trotzdem nicht zufrieden. Sie hätte was besseres verdient. Einen Mann mit einer Meinung. Einen Mann, mit dem sie verreisen kann. Einen Mann, der nicht immer das tut, was sie sagt. Einer, mit dem sie am Strand unter den Sternen sitzen kann, der mit ihr das Meeresrauschen genießt, der einfach nur da ist, der mit ihr alleine ist. Sie könnte ihn haben, denkt man sich. Er wäre so verdammt nah, versucht man ihr ins Gehirn zu telepathieren. Man wünscht es sich. Und schwelgt in Phantasien. Bei denen es bleibt.

In der Zeit zu zweit merkt man, wie man sich verändert hat in den letzten Jahren. Man ist zu dem Mann geworden, der man immer werden wollte. Man schreitet mutig und unabhängig durch die Welt. Versucht anzuwenden, was man in Flirtforen über Frauen gelernt hat. Immer wieder necken, ein bißchen Ärgern. Es funktioniert gut. Man wächst zusammen, fühlt sich gemeinsam wohl. Sie schreibt in ihrem Blog, dass sie sich mit ihrem Reisepartner super versteht. Doch ihr Freund und das Alter wirken wie ein Keil aus gehärtetem Stahl.

Sieben Stunden im Dschungelzug, viele Stunden im Bus. Zu zweit kein Problem. Es ist schön. Zwei Tage gemeinsam im dichten Regenwald. Den ganzen Tag auf den Beinen. Manchmal sieht man über eine Stunde keine Menschenseele. Ist allein mit dem Wald. Erklimmt auf schwierigen Pfaden, von oben bis unten nassgeschwitzt, tollste Aussichtshügel und erfreut sich an den Blutegeln, die sich ständig an die Beine haften, um eine Weile zu schmarotzen. Sie quiekt, man hilft. Da ist sie ganz das Mädchen. Als in der engen Fledermaushöhle die Taschenlampe ausgeht und wir uns mit ihrer Funzel, die ebenfalls Aussetzer zeigt, begnügen müssen, schreitet sie trotzdem mutig voran. Da ist die Abenteurerin. Mit steigendem Alter bauen die Risiken im Gehirn Sperren auf den Erlebnisstraßen. Überwindet man sie, freut man sich. Über den Schatten springen. Dinge tun, die man sonst nie getan hätte. Man kann meist mehr, als man sich zutraut. Wenn sie nicht zieht, zieht man selbst. Gemeinsam ist man stärker.

Letzter Abend. Busfahrt nach Kuala Lumpur. Streifzug durch Chinatown. Touristenfotos vor den beleuchteten Twin Towers. Im Gras sitzend, Guavo und Sternfrucht genießend. Es fühlt sich gut an. Es fühlt sich alles so gut an.
Am Morgen hängt der Geruch der nahen Einsamkeit wieder in der Luft. Sie besteigt den Bus in die Cameron Highlands, man selbst fliegt abends schon zurück nach Deutschland. Umarmt sich kurz. "Du musst aber gleich gehen", sagt sie. Nicht mehr winken. Nicht mehr nachsehen. Das wäre zu schwierig. Es fühlt sich an, als hätte man ein Stück Herz heraus gerissen. Irrt ziellos durch die Stadt, die Einsamkeit prügelt brutal auf einen ein. Die ersten drei Stunden sind die schlimmsten, danach gewöhnt man sich langsam wieder an die Normalität. Und dennoch fehlt sie. Sie fehlt so sehr.

In der ersten Mail nach knapp einer Woche schreibt sie drei Mal in verschiedenen Zusammenhängen, dass man so ein super Reisepartner gewesen sei. Sie schickt ein Bild von uns, kommentiert es mit "Finde das so toll". Und dennoch... mit ihrem Freund sei wieder alles in Ordnung, er sei nur überfordert gewesen mit der Situation. Danke für die Auskunft. Will man das überhaupt wissen?

Man hat nichts zu verlieren. Das Leben geht entweder in die oder in die andere Richtung. Meistens geht es in die andere. Man schreibt ein-zweideutig, dass man gerne wieder was mit ihr unternehmen würde, wenn da ihr charakterschwächelnder Freund nicht im Hintergrund rumwuseln würde. Man schickt ihr ne DVD als Geschenk. Einen Liebesfilm, den sie mal im Fernsehen gesehen hatte, den sie furchtbar toll fand, aber an dessen Namen sie sich nicht erinnern konnte. Sie schreibt zurück, ganz aus dem Häuschen. "Dass du an sowas noch denkst! Unglaublich!" Und sie schreibt, dass sie gerne wieder mit einem irgendwohin fahren würde, wenn es nicht gerade zur Vorlesungszeit und nicht zu teuer sei.

Nichts überstürzen. Das normale Leben hat einen schneller wieder im Würgegriff, als einem lieb sein kann. Manchmal sitzt man abends vor seiner Heimkino-Leinwand und sieht sich die Bilder des Urlaubs an. Wehmütig. Träumend. Phantasierend. Man versinkt in ihren Augen, denkt an die Momente, in denen sie so nah war und man sich wünschte, sie einfach nur berühren zu dürfen. Wie wunderschön es gewesen wäre. Man denkt so viel nach und versucht sich einzureden, dass man die schönen Momente konservieren soll in ihrer reinen Form, ohne noch mehr in sie hinein zu wünschen. Wie schön es wäre, vollständig zufrieden zu sein. Wie nahe man an diesem Ideal dran vor. Zehn Tage lang. Nur zehn Tage lang. Immerhin zehn Tage lang!

Man nimmt sich vor, sie in ein paar Wochen mal anzurufen. Sie zu nem gemeinsamen Ski-Wochenende einladen. Wünscht sich, dass es klappt. Verliert sich dennoch in Phantasien. Vielleicht verliebt sie sich dann ja in einen? Kann doch sein? Hämmert zurück, dass man einfach nur die Zeit genießen soll und sich alles weitere ergeben wird oder auch nicht. Gute Momente konservieren. Bewahren. Genießen. Nicht noch mehr hinein drücken. Nein!

Das Gefühl lässt sich dennoch nicht betrügen durch den Verstand. Noch immer fühlt sich die Einsamkeit einsamer an als vor dem Urlaub. Und wenn man die Bilder nicht hätte, könnte man manchmal glauben, alles sei nur ein Traum gewesen. Und dann der Gedanke, der von unten her nach oben drückt: Dass man sie an dem Tag, an dem sie in Kuala Lumpur in den Bus stieg, das letzte Mal gesehen haben könnte. Man weiß und fürchtet, dass sich solche Bekanntschaften mit der Zeit verlieren. Dass sie aufgefressen werden vom normalen Leben.

Aber der Kater liegt glücklich da und schnurrt. Eine Beziehung ist besser als keine.

ERSTER BEITRAG DES THEMAS
ninchen

Re: Wehmut im Paradies - ein etwas anderer Reisebericht

Beitrag von ninchen »

Ich hab alles gelesen ;)
Amaury77

Re: Wehmut im Paradies - ein etwas anderer Reisebericht

Beitrag von Amaury77 »

Eine sehr schöne Geschichte. Du schreibst sehr einfühlsam.

Bewahr diese schöne Tage als Erfahrungsschatz auf.
ninchen

Re: Wehmut im Paradies - ein etwas anderer Reisebericht

Beitrag von ninchen »

Okay, ohne den Beitrag davor macht meiner jetzt keinen Sinn mehr ;)
Naja, jedenfalls schöner Reisebericht.