SWR2 Wissen: Sexuelle Verführung – Zwischen Kunst und Grenzüberschreitung

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Kolinatan
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SWR2 Wissen: Sexuelle Verführung – Zwischen Kunst und Grenzüberschreitung

Beitrag von Kolinatan »

Es gab gestern einen Beitrag bei SWR2 Wissen zum Thema sexuelle Verführung. Wer sich den ganzen Beitrag (ca. 28 Minuten) anhören möchte, findet diesen hier. Wer lieber lesen möchte, findet das Manuskript hier.

Es werden verschiedene Perspektiven angeschnitten, von Casanova, über Flirt-Coaches und Pick-Up bis hin zur #MeToo-Debatte und die Änderung des Textes im Song "Baby, it´s cold outside". Im Folgenden ein paar Ausschnitte aus dem Manuskript zu verschiedenen Themen, welche auch hier im Forum immer wieder kontrovers diskutiert wurden. Es geht mir nicht darum, erneut entsprechende Diskussionen anzustoßen, sondern nur aufzuzeigen, dass diese Themen auch deutlich neutraler und differenzierter besprochen werden können, ohne sich davon triggern zu lassen und sich respektvoll und achtsam auszutauschen, ohne jemanden zu verurteilen sondern zu erklären, was an einem konkreten Verhalten problematisch ist und so das Bewusstsein über die Folgen der eigenen Handlungen zu fördern.
Autor: [...] Ulrich Clement, bekannter Psychologe und Sexualwissenschaftler. In Heidelberg betreibt Clement eine psychotherapeutische Praxis, in der er immer noch Menschen empfängt – er ist über 70 und hat Parkinson. [...]

Sprecher 2 (Ulrich Clement): Der Nebengedanke beim klassischen Verführungsbegriff ist: Die Frauen haben es eigentlich auch gewollt, sie haben es nur nicht so gesagt. Aber der Verführer hat bei denen gespürt, welche Trigger er berühren muss, wo er ansetzen muss.

Autor: Dass das problematisch werden kann, hören wir später. Aber was der erfahrene Sexualtherapeut Clement meint, ist, dass Begehren, Lust, Verführung sich im Graubereich des Möglichen abspielen. Und das ist reizvoll, solange die oder der Verführte wissen, dass sie das Spiel beenden können. Oder sich ganz darauf einlassen. Kontrolle abgeben, fallenlassen, genießen.
[...]
Sprecher 2 (Ulrich Clement): Vor allen Dingen ist es jetzt nicht mehr so ehrenrührig, wenn eine Frau in die aktiv flirtende Position geht. Vor 100 oder 200 Jahren hätte sie dann das Schlampen-Diktat am Hals gehabt. Oder der Mann, der sich rumkriegen lässt, der hätte noch nicht als Mann gegolten. Ich glaube, das ist heute nicht mehr so.
[+] Online Dating
Autor: Das Miteinander der Geschlechter hat sich drastisch geändert: Dating-Apps und Websites wie Tinder, Grinder und Co versprechen eine schier endlose Zahl an potenziellen Partnern und Partnerinnen. Aber analog und ganz real wissen viele Menschen nicht, wie sie jemanden kennenlernen sollen. Flirten, umwerben, begehren, verführen: Wie geht das?
[...]
Autor: Zu Besuch bei Nina Deißler. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet sie in Hamburg als Beziehungscoach, betreibt einen erfolgreichen Podcast und hat 13 Bücher geschrieben über Liebe, Dating, Flirten.

Nina Deißler: Unser Gehirn kennt nicht den Unterschied zwischen einem Online-Business, also Amazon oder einem Klamotten-Store oder irgendetwas und einem Online-Dating. Wir sind in dem Moment, wo wir auf so einer Plattform sind, sind wir eher so im Shopping-Modus und all die Elemente, die uns sonst dazu bringen würden, dass wir jemanden anziehend finden, dass wir überhaupt über Verführung nachdenken, die sind da gar nicht da.
[...]
Autor: Die Grenze zwischen Flirt und Verführung ist in der Praxis fließend. [...] Eine Verführung ist immer zielgerichtet, der Verführer hat eine sexuelle Absicht. Ein Flirt braucht kein Ziel, er kann ebenso schnell vorbei sein, wie er angefangen hat – aber ebenso schnell wird aus einem Flirt auch ein verführerisches Gespräch. Wobei: Menschen, die flirten oder sich verführen, tun das viel weniger mit Worten,[...]
[+] Körpersprache und Grenzen
Autor: Aber wie die richtigen Worte und wie die richtige Körpersprache finden? Der Erfolg von Beziehungs-Coaches, Dating-Ratgebern, Flirt-Seminaren und Verführungs-Workshops zeigt: Viele Menschen suchen Hilfe, brauchen Tipps und Unterstützung, um zu lernen, wie sie überhaupt einen – Achtung, altmodischer Begriff – „Kontakt anbahnen“ können.
[...]
Autor: Horst Wenzel, laut eigener Website der „erfolgreichste Flirtcoach Deutschlands“, setzt auf gute Stimmung und Gruppendynamik. Bei ihm sollen sich die Männer nicht nur Tipps zum Flirten und Verführen abholen. Sie können sich austauschen, sollen sich unterstützen und sie sollen üben: Wie spreche ich eine Frau an, die mir gefällt? Wie verhalte ich mich so, dass es für mich, aber auch für sie angenehm ist? Wie erkenne und respektiere ich Grenzen?
[...]
Autor: Die #MeToo-Debatte seit 2013 hat gezeigt, wie oft und wie perfide Männer ihre Macht missbrauchen, um Frauen zu manipulieren, sie zu etwas zu überreden, das sie nicht wollen, ihre oft schwächere Stellung ausnutzen. Deshalb ist es besser nachzufragen: Willst Du es auch?
[...]
Autor: Für Stefan Hirschauer, Professor für soziologische Theorie und Gender Studies an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, belegen solche Beispiele, wie problematisch das Konzept der Verführung ist.
[...]
Autor: Wer jemanden verführe, handle strategisch, kritisiert Stefan Hirschauer. Das Verhältnis der handelnden Personen sei immer asymmetrisch, also ungleich. Der Verführer meine zu wissen, was die andere Person insgeheim wolle. Eine Anmaßung.

Stefan Hirschauer: Im Kern geht es darum, sexuelle Einwilligung trotz des Desinteresses eines anderen zu erreichen oder auch gegen seinen oder ihren bekundeten Willen.

Autor: Ja heißt Ja, Nein heißt Nein. Was so einfach klingt, funktioniert bei der Verführung oft nicht. Sie findet auf der Grundlage eines „Vielleicht“ statt, lebt von Andeutungen. Das Risiko, dabei etwas falsch zu verstehen, ist groß.

Stefan Hirschauer beobachtet, dass die junge Generation sensibler geworden sei, ein größeres Problembewusstsein in Bezug auf die Verführung habe. Als Beleg dafür führt er unter anderem eine europaweite Erhebung an aus dem Jahr 2015 (2). Die Potsdamer Psychologin Barbara Krahé hatte dafür junge Männer und Frauen zwischen 18 bis 27 gefragt, ob sie schon mal Opfer sexueller Aggression, verbal oder körperlich, geworden seien. Das haben fast genauso viele Männer bejaht wie Frauen, nämlich jeweils rund ein Drittel der Befragten.

Stefan Hirschauer: Man hat aber gleichzeitig auch gefragt, inwieweit junge Männer und Frauen sich auch selber daran erinnern können, ob sie solche Übergriffe getätigt haben. Das Ergebnis war: Die jungen Männer wissen, dass … zu 50 Prozent kreuzen die das an: Ja, da bin ich mal wirklich… da habe ich eine Grenze überschritten. Bei den jungen Frauen waren es 15 Prozent. Das heißt: Ein Bewusstsein davon, dass da etwas schieflaufen kann, dass man sich missverstehen kann, dass man Grenzen verletzen kann und auch wirklich justiziabel falsche Dinge tun kann, ist bei den jungen Männern – es ist ein Erfolg der Frauenbewegung – ganz klar gewachsen. Bei den jungen Frauen ist es gerade erst im Entstehen.
[...]
Autor: Für den Heidelberger Sexualforscher Ulrich Clement ist der vielzitierte Satz: „Nein heißt Nein“ richtig und falsch zugleich.

Sprecher 2 (Ulrich Clement): Natürlich stimmt der oft. Wenn eine Frau sagt, lass mich in Ruhe, dann hat das auch zu gelten. Aber man muss es halt im Kontext sehen. Das setzt voraus, dass die Beteiligten auch wissen, in welcher Situation sie gerade sind. Wenn eine Frau sagt: Nein, kann das auch mal heißen: mach weiter, oder: jetzt nicht, es kann heißen: so nicht. Das Nein hat sehr viele Varianten.

Autor: Der Versuch, moralisch und auch rechtlich für Klarheit zu sorgen, sei verständlich, findet Ulrich Clement. Aber diese Form der Eindeutigkeit bedrohe das Spielerische der Verführung.

Sprecher 2 (Ulrich Clement): Wenn man Sexualität und Erotik nur ganz ernst, also wirklich nur eins zu eins, mit keinen Spitzen, keinen Andeutungen, keinen Mehrdeutigkeiten macht, dann ist das eine absolut trostlose Geschichte. Ein Verführer, der lässt es auch mal drauf ankommen mit so einer empathischen Frechheit beispielsweise. Wenn man das gut hinbekommt, das ist schon was wert.
[...]
Autor: Horst Wenzel und seine Männer sind vom Seminarraum auf den Stuttgarter Schlossplatz gewechselt. Kein Rollenspiel mehr, es wird ernst. Sie suchen nach Frauen, die sie ansprechen können.

Autor: Nachfrage bei der jungen Frau: Wie hat sie das Gespräch gerade empfunden?

O-Ton 23 Frau: War ja eigentlich ganz nett. Ich finde es eigentlich cool, wenn Leute sich das trauen, einfach Leute anzusprechen. (…)
(Reporter) Erlebst du umgekehrt häufiger unangenehme Situationen?
(Frau) Ja, aber das ist dann eher immer mehr irgendwie abends, wenn man rausgeht oder so, dass man da ein bisschen unangenehm angemacht wird, genau.
[...]
[+] Signale von Frauen
Autor: Auch Nina Deißler beobachtet, dass sich mit den Tricks und Maschen selbst ernannter Verführungskünstler eine ungute Dynamik der Geschlechter entwickelt hat, es gäbe eine Art Wettrüsten – die Frauen wappnen sich gegenüber den Anmachen der Männer. Und die Männer wiederum überlegten sich noch geschicktere Maschen, um diese Abwehr zu umgehen. Das ist natürlich und zuerst besonders unangenehm für viele Frauen. Aber:

Nina Deißler: Ein Mann, der eine Frau verführt hat, mit Tricks und Manipulationstechniken und irgendwelchen Dingen, die er da auswendig gelernt und geübt hat, der wird ja niemals wissen – gerade, wenn er die Frau dann wirklich toll findet – mag die mich eigentlich wirklich oder ist sie nur auf meine Technik, meine Masche, meine Methode reingefallen. Und das kann natürlich auf lange Sicht dann auch wirklich bei den Männern, die das anwenden, zu Problemen, also wirklich zu psychischen Problemen führen. Und das habe ich in meiner Praxis tatsächlich auch schon häufig erlebt. Ich habe immer wieder hier Männer sitzen, die in Tränen ausbrechen, weil sie sagen, sie wissen nicht mehr, wer sie selbst eigentlich sind. Das finde ich ganz schön traurig.

Autor: In der Realität gingen viele Signale für einen Flirt oder eine Verführung ursprünglich von der Frau aus, sagt die Beziehungsberaterin.

Nina Deißler: Also man geht davon aus, dass ungefähr 70 Prozent der Kontakte zwischen Männern und Frauen eigentlich von der Frau initiiert wurden. Und wenn die Frau das richtig gut macht, hat der Mann das nicht bewusst gemerkt.

Autor: Frauen senden beim Flirten unbewusst eindeutige Signale an den Mann. Das fand ein Team um den Verhaltensforscher Karl Grammer bereits 2001 im Rahmen einer Studie des Wiener Ludwig-Boltzmann-Instituts heraus. Karl Grammer fasste seine Beobachtungen damals mit diesem erstaunlichen Satz zusammen:
"Man kann das männliche Verhalten durch das weibliche Verhalten vorhersagen, aber andersherum geht es nicht." Quelle: spiegel.de

Autor: Frauen lenkten das Gespräch, so das Forschungsteam, in dem sie zum Beispiel kaum merklich nickten und so den Mann zum Reden aufforderten. Und Frauen geben bewusst oder unbewusst non-verbale Signale, mit denen sie dem Mann anbieten, sie anzusprechen: Sie zupfen ihre Kleidung zurecht, schlagen die Augen auf oder fahren sich durch die Haare. Klingt ein bisschen nach Hollywood-Kitsch, scheint aber sehr oft zuzutreffen, das legen verschiedene Studien nahe. Schwierig wird’s dagegen, wenn Frau von Vorneherein gar keine Signale sendet, warnt Nina Deißler.

Nina Deißler: Es sind gerade also sehr, sehr gut aussehende Frauen, die sagen, ich werde nie angesprochen außer von totalen Idioten. Und was ich dann eben beobachte, ist, dass diese Frau sich selber im Grunde nicht traut, dass sie Signale in irgendeiner Form zeigt. Also, dass sie, wenn sie einen Mann interessant findet, dass sie das den Mann auch wissen lässt. Und gerade, wenn eine Frau sehr attraktiv, sehr gutaussehend ist und der Mann jetzt sie auch interessant findet. Wenn der Mann sich von ihr ignoriert fühlt, weil sie ihn eben keines Blickes würdigt, dann hat er gar nicht den Mut, auf sie zuzugehen. Ja, weil er sich denkt: also so eine gutaussehende Frau. Die wird bestimmt eh dauernd angesprochen. Da hole ich mir jetzt keine Abfuhr. Das ist allerdings den Männern, die quasi sowieso jede Frau ansprechen, relativ egal. Und das sind dann eben meistens die, wo die Frau sagt, sie wird nur von Idioten angesprochen.
Quelle: SW2 Wissen - Manuskript

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