Menelaos hat geschrieben: ↑20 Okt 2021 05:06
Ich denke ein wichtiges Problem hier ist, dass der Artikel gleich zwei Nägel getroffen hat. Sowohl Männer als auch Frauen (natürlich nicht alle) finden dass es bei dem Thema um Sexismus gegen ihr Geschlecht geht, ein Thema also das die Emotionen hochkochen lässt.
Der Artikel selbst hat mich eigentlich emotional nicht wirklich bewegt ...
... daher begreife ich auch nicht die Entrüstung über mein Autounfall-Beispiel, die schlichtweg mein eigentliches Argument zu übersehen scheint, um mir vorzuwerfen ich würde die moralische Verantwortung für die Tat teilweise auf das Opfer abladen.
Ja, genau da liegt der Hund begraben: Du verstehst einfach nicht, was es bedeutet, wenn Du - auch wenn es nur in einem Nebensatz ist und eigentlich gar nicht der Kern Deiner Aussage ist - auf den Aspekt "Das Opfer trägt eine Mitschuld" anspielst. Dass der Vergleich Unfall - bewusste Straftat unglücklich war, ist da nur ein Nebenaspekt.
Dass eine Vergewaltigung schlimm ist, verstehst Du. Aber dass JEDE Andeutung, dass die Frau durch ihr Verhalten zu diesem Vorfall beigetragen hat, und JEDES Anzweifel dessen, was sie erlebt hat, ein neuer, extrem schmerzhafter Schlag mitten ins Gesicht ist, kannst Du aus irgendwelchen Gründen nicht nachvollziehen.
Du schreibst, dass Du Nikki in so einem Fall erstmal trösten würdest und dass ein Gespräch zum Thema "wie hätte sie sich besser schützen können" später erfolgen würde. SPÄTER. Glaubst Du wirklich, dass es "später" nicht mehr weh tut? Glaubst Du, dass ein solches Gespräch überhaupt nötig wäre, oder ob sie nicht vielleicht sowieso zukünftig nur noch in Begleitung das Haus verlassen will? Warum ist es so schwer zu verstehen, dass der beste Zeitpunkt, um so ein Gespräch zu beginnen, NIE ist? Selbst wenn sie Dich fragen sollte "Hab ich irgendwas falsch gemacht", wäre die richtige Antwort nicht "Naja, vielleicht hättest Du nicht nach 22:00 Uhr das Haus verlassen sollen", sondern höchstens "Nein. Es ist ein unerträglicher Zustand, dass eine junge Frau anscheinend nach 22:00 Uhr nicht mehr das Haus verlassen kann, ohne überfallen zu werden. Aber das ist nicht DEIN Fehler." Warnen kannst Du vorher. Hinterher nicht mehr.
Dann schreibst Du, dass das, was ich erlebt habe, das, was andere Frauen aus meinem Umfeld erlebt haben, für Dich nicht zählt, dass Du Beweise brauchst. Wieder ein Schlag in die Fresse. Ich muss nicht beweisen, was ich erlebt habe. Ich schildere meine Sicht der Dinge, der/die andere/n Tatbeteiligte/n schildert seine, und der Richter darf dann daraus ein Urteil bilden. Du bist kein Richter, und wir können hier die anderen Tatbeteiligten nicht anhören, aber Du bist hoch sensibel für die Situation "falsche Anschuldigungen". Also kannst Du Dir gern alles, was die anderen Tatbeteiligten angeben könnten, möglichst vorteilhaft für diese ausmalen. Von "Ich hab nur zugesehen" über "Ich war gar nicht da" bis zu "Sie hat es provoziert" und "Sie wollte es so." Und alles andere, was in solchen Befragungen halt geäußert wird. Und dann stellst Du Aussage gegen Aussage, sichtest das, was die Polizei an Beweisen hat, und triffst Deine Entscheidung.
Aber in der Rolle des Richters oder des Polizeibeamten oder auch nur des unparteiischen Betrachers wirst Du die Frau nie Dinge fragen wie "Hat er wirklich...?", "Können Sie das beweisen?", "Was für Kleidung trugen Sie?", "Warum waren Sie so spät noch unterwegs?", Warum sind Sie mit ihm in seine Wohnung gegangen?" etc. So etwas fragt der Anwalt des anderen Tatbeteiligten - um dessen Unschuld zu beweisen oder wenigstens begründete Zweifel zu säen. Der darf und muss das - es ist sein Job, parteiisch zu sein. Aber wenn Du so etwas fragst, bist Du damit auch parteiisch. Du stellst Dich instinktiv auf die Seite des anderen Tatbeteiligten - also gegen die Frau. Kannst Du machen, aber wunder Dich dann nicht, wenn sie verletzt reagiert. Sei bitte entweder wirklich unparteiisch, oder sei klar auf einer Seite der Person. Denn dann weiß die andere Seite wenigstens, dass sie von Dir weder Trost noch Hilfe erwarten kann, und der Schlag trifft sie nicht unvorbereitet.
Und bitte verzichte darauf, das, was ich hier geschrieben habe, zu kommentieren. Wenn es Dir hilft zu begreifen, warum Dein "... aber wenn Du den Sicherheitsgurt angelegt hättest" oder Dein "später reden wir über Deine Versäumnisse" oder Dein "Hast Du Beweise" so sehr schmerzt, dass alles andere, was Du vielleicht noch gemeint haben könntest, in diesem Punch untergeht, ist mein Ziel erreicht. Wenn nicht, hab ich es halt umsonst geschrieben. Aber ich werde nicht mit Dir darüber diskutieren, wie meine Wahrnehmung ist. Und wie Deine Wahrnehmung ist, musst Du nicht nochmal darstellen - die begreife ich durchaus.
Und bitte, auch kein "Aber ich hab doch gar nicht." Ich glaube Dir, dass Du nicht wolltest, es Dir nicht bewusst warst - aber Du hast. Wenn das, was Du tust, mich schmerzt, dann hast Du mir Schmerzen zugefügt.
Und das, was ich mit diesem Post versuche - Dir zu erklären, wie das, was Du ohne jede böse Absicht und anscheinend ohne Dir dessen bewusst zu sein, tust, auf mich (und andere Frauen) wirkt, und Dir so die Chance zu geben, Dein Verhalten zu ändern (nur die Chance, keine Forderung. Wenn Dir egal ist, wie wir uns fühlen, oder wenn Dir eine Änderung unzumutbar scheint, dann musst Du diese Chance nicht nutzen.) - das versucht der Autor mit seinem Buch anscheinend im Großen, indem er es für alle Männer erklärt. Und begeht dabei denselben Fehler wie Du - er äußert nebenbei Dinge, die den Leser (also dich) emotional so hart treffen, dass die eigentlich sinnvolle Kernaussage darin untergeht.