Traurigkeitslevel 5

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ERSTER BEITRAG DES THEMAS
Endphase
Ist kein Frischling mehr
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Traurigkeitslevel 5

Beitrag von Endphase »

Und hier mein vierter Text.

Traurigkeitslevel 5

Ich bin schon lange wach bevor der Wecker klingelt, so wie jeden Morgen. Ich starre im Dämmerlicht an die Decke meiner leeren Wohnung, meine Einsamkeit und meine Traurigkeit sind um mich wie ein vergifteter Nebel. Schließlich gebe ich es auf noch einmal einzuschlafen und gehe in gebückter Haltung ins Bad. Wie so oft starre ich in den Spiegel, versuche zu ergründen was in meinem Leben so schief gelaufen ist, aber mein Spiegelbild verrät mir nicht die Antwort. Dann übe ich eine halbe Stunde lang mein Lächeln bis ich fast selbst daran glaube. Ich hole den TL-Checker aus dem Versteck hinter dem Wandschrank, er ist natürlich vom Schwarzmarkt, für Privatpersonen ist der Besitz illegal. Ich führe meine rechte Hand durch die Messschleife und starte das Gerät. Mein Traurigkeitslevel ist 2,5 so früh am Morgen ist das gar nicht gut, heute wird ein schwieriger und gefährlicher Tag.

Ich zwinge mich dann dazu wenigstens etwas zu essen, über meinen erkalteten Kaffee blicke ich ins Leere. Ich habe heute frei und würde mich am liebsten in der Wohnung verkriechen, aber das geht natürlich nicht, das elektronische Türschloß und die Bewegungsmelder überwachen akribisch mein Kommen und Gehen, ich habe diesen Monat schon zu viele Stunden in meiner Wohnung verbracht, werden es noch mehr kommt von der Behörde ein Einschreiben mit der Vorladung zu einer BESPRECHUNG oder schlimmer noch, sie schicken gleich die CLOWNS. Beides kann ich mir in meiner jetzigen Verfassung nicht erlauben, also verlasse ich meine Wohnung um Spaß zu haben wie es von einem Single erwartet wird. Ich kontrolliere noch kurz den Sitz meines Lächelns und meines Anzugs und mit dem beschwingten Gang den ich mir so mühsam antrainiert habe flaniere ich durch die Straßen meiner Stadt. Alle Menschen lächeln mich an und grüßen mich freundlich, ich lächele und grüße zurück einige ziehen ihren Hut dessen Tragen neuerdings wieder in Mode gekommen ist, aber ich werde so ein Ding nie anziehen. Ich frage mich welches Lächeln echt ist und welches genauso eine Fassade ist wie mein eigenes, nur die Leute die schon eine BEHANDLUNG hinter sich haben erkennt man gleich, ihr Grinsen ist fast manisch und ihre Augen sind leer.

Ich bin auf der Hut und achte auf die CLOWN-Patrouillen. Ich wechsele betont langsam die Straßenseite wenn ich ihrer ansichtig werde und versuche meine Nervosität zu verbergen, heute sind
sehr viele unterwegs, es ist fast ein Spießrutenlauf. In einem uralten Buch das mir mal in die Hände fiel schrieb ein Autor namens Stephen King das Kinder Angst vor Clowns haben und das Erwachsene sie albern finden, das Buch ist natürlich verboten, so wie alle Texte, Videos und Songs die einen traurig oder ängstlich machen. Ich finde sie albern und beängstigend zugleich. Albern wegen ihrer Uniform, den von Hosenträgern gehaltenen Sackhosen, den unförmigen Clownschuhen, dem Rüschenhemd samt Fliege mit Quietschbunten Sacko kombiniert. Sie tragen immer eine Perücke mit Halbglatze und roten Haaren, ihre Clownschminke und die rote Nase ist ganz klassisch. Und sie ängstigen mich wegen dem was sie tun, die riesigen Pistolen in ihren Schulterhalftern sind keine Dekoration Und immer sind sie zu zweit.

Ich werde unaufmerksam und renne fast eine junge Frau um, wir verlieren beide die Kontrolle über unser Lächeln und schauen uns zunächst erschrocken an. Dann strahlt sie mich wieder an und ich strahle zurück. Sie ist sehr hübsch, aber das sind wir alle. Wer nicht spätestens nach dem dritten chirurgischen Eingriff Schönheitslevel 8 erreicht muss auf DIE REISE. Niemand weiß wo die hingeht, sicher ist nur das nie einer zurück kommt. Ich gehe weiter und unversehens komme ich in eine sehr gefährliche Situation. Vor mir ist eine CLOWN-Patrouille und winkt aus dem Strom der Passanten einzelne raus für einen TL-Check, den kann ich mir nicht erlauben. Ich will die Straßenseite wechseln und stelle entsetzt fest, das die komplette andere Seite eine gesperrte Baustelle ist, umkehren kann ich nicht, dann stellen sie mit ihrem geübten Blick sofort fest das da etwas faul ist. Ich verlangsame meinen Schritt gerade so, das es noch nicht auffällig ist, Schweiß tropft in meinen Nacken ich weiß das sie mich gleich herauswinken werden, mein Lächeln entgleitet mir, mein Gang wird eckig. Und sie winken tatsächlich, aber nicht mir gilt ihr Winken,sondern der jungen Frau die mit federnden Gang und strahlenden Lächeln mich mit ihrem Kinderwagen überholt hat. Mich hat sie getäuscht, aber ihr Instinkt hat es den CLOWNS wohl verraten. „TL-Check“ sagt einer der beiden zu ihr, und schon als sie ihren Arm ausstreckt zerbirst ihre Fassade, aus strahlendem Lächeln wird haltloses Schluchzen. Die Nadel des TL-Checkers eilt über die Skala, Vollausschlag, Traurigkeitslevel 5

Ich will nicht sehen was jetzt kommt, aber es wird von uns erwartet das wir gut gelaunt die Szene beobachten, eine Flucht würde mich verraten. Einer der CLOWNS legt ihr die Handschellen an, der andere ruft die Behörde an. Sie will zu ihrem Kind während Tränen über ihr Gesicht laufen, aber sie lassen es nicht zu, einer der CLOWNS setzt ihr eine Spritze, es ist wohl ein starkes Beruhigungsmittel, ihr Körper verliert jede Spannung, ihr Gesicht erschlafft. Zehn Minuten später kommen zwei Fahrzeuge, ein Krankenwagen mit bunten Clowngesichtern bemalt und ein Auto der Behörde, in leuchtenden Rosa lackiert. Die CLOWNS verfrachten die Frau in den Krankenwagen. Dieser wird sie in Klinik bringen zur BEHANDLUNG. Dort wird sie all ihre Ängste und all ihre Traurigkeit verlieren, aber auch all ihre Liebe und Empathie und große Teile ihrer Intelligenz, zur Mutter taugt sie danach nicht mehr, wahrscheinlich kommt sie dann ins Lächlerheim. Der Mitarbeiter der Behörde nimmt das Kind mit, entweder der Vater wird sich darum kümmern wenn er den TL-Test übersteht oder es kommt in die Obhut der Behörde. Beide Fahrzeuge verlassen den Ort des Geschehens, nur der am Straßenrand vergessene Kinderwagen bleibt als Mahnmal der Tragödie die sich gerade abgespielt hat. Und ich überstehe auch diesen Tag.

Am nächsten morgen gehe ich zur Arbeit, wir kommen alle 20 Minuten früher damit wir fröhlich schnatternd um die Kaffeemaschine stehen können, wir strahlen um die Wette, machen Scherze und ich will mich doch nur in der Ecke verkriechen, heulen, schreien endlich diese Scharade beenden, mein Inneres ist ein einziger Eisklotz, Trauer und Einsamkeit zerfrisst mich während ich blöde Witze reiße. Und zu meinem Schock erscheint Sandra, ich hätte sie erst in zwei Wochen erwartet, normalerweise dauert es 2 Monate nach einer BEHANDLUNG bis man wieder arbeitsfähig ist.
Was heist arbeitsfähig ? Sie teilte sich mit mir ein Büro in der IT Abteilung, sie war die klügste hier, jetzt müssen sie sie mühselig anlernen damit sie die Ablage bewältigt. Ich ertrage ihren Anblick nicht und gehe an meinen Arbeitsplatz. Ich denke darüber nach wie oft ich auf ihren Hintern gestarrt hatte. Und noch viel öfter einen Blick auf ihr Gesicht riskiert hatte in Momenten wo sie sich unbeobachtet fühlte, ich sah ihre Melancholie, ihre Traurigkeit, ich hätte so gerne mal mit ihr ein richtiges Gespräch geführt, keine leeren Scherze und dummer small talk, aber dafür fehlte mir immer der Mut und nun ist diese Gelegenheit vorbei wie so viele andere vorher.

Am Nachmittag kommt sie zu mir ins Büro, einen Moment lang wirkt sie verwirrt, als wüsste sie nicht wie sie hierher gelangt sei, es ist wohl eine Gewohnheit aus den Tiefen ihres misshandelten Gehirns. Ihre Verwirrung legt sich und sie strahlt mich an, ihr Lächeln ist ein auf den Kopf gestellter Schrei, ihre einst so klugen und schönen Augen sind dumm, fast wie die eines Tieres, in ihnen ist nur eine rasende, mechanische Freude. An ihrer linken Schläfe ist eine kleine Narbe wo sie die Sonde eingeführt haben. Als ich sie so sehe zerbricht etwas in mir, ich stehe auf, krächze „ Ich muss aufs Klo“, eine Bemerkung die sie mit einem hysterischen Lachen quittiert. Ich gehe zur Toilette, kaum noch in der Lage die Fassade aufrecht zu erhalten, ich nehme die Kabine ganz links, wissend das hier die Kamera defekt ist . Ich setze mich auf die Schüssel und heule Rotz und Wasser, aber ich achte darauf lautlos zu bleiben, niemand darf das mitkriegen, Denunzianten sind fast so gefährlich wie CLOWNS. Schließlich fange ich mich wieder und gewinne meine Fassung zurück, einatmen, ausatmen, ganz langsam. Als ich mir sicher bin das man mir meinen Zusammenbruch nicht mehr ansieht verlasse ich die Kabine, ich mustere mich vor dem Spiegel, hole mein Lächeln ins Gesicht zurück, ich bin wider einsatzfähig.

Und dann begehe ich eine unglaubliche Dummheit, ich war mir selbst zu sicher und legte meine Hand in den TL-Checker der neben dem Waschtisch montiert war. Die Nadel huschte über die Skala und blieb bei 3,9 stehen. Ich wurde kreidebleich, ein eisiges Entsetzen fuhr in meine Glieder. Bei 4,0 wäre der Alarm ausgelöst worden und die Behörde hätte mich zu einer BESPRECHUNG einbestellt, das war bei Sandra der Anfang vom Ende. Ich weiß nicht wie ich die Stunden bis zum Feierabend überstand, aber endlich war dieses Martyrium beendet, am liebsten wäre ich aus dem Gebäude geflohen aber ich zwang mich dazu mit anderen Kollegen noch 10 Minuten blödelnd bei der Empfangsdame zu stehen.

Heim kann ich noch nicht, für einen alleinstehenden Mann ist mein Stundenkonto schon grenzwertig, ich muss unter Menschen. Ich gehe ins Kino, der Saal ist gerammelt voll, es läuft eine Komödie, es läuft immer eine Komödie, bei jedem faden Scherz brüllt der ganze Saal vor Lachen, ich lache mit, jedes Lachen ist ein Schrei, mein Inneres ist eisig, es sind entsetzliche 2 Stunden. Und es ist immer noch zu früh, also gehe ich in eine Bar. Am liebsten hätte ich dumpf brütend alleine mit meinem Bier verbracht, aber das geht natürlich nicht, also parliere ich mit der Frau die am Tresen
neben mir steht, ich weiß gar nicht was für einen Blödsinn ich plappere, ich weiß nicht ob sie sich amüsiert oder ihre Panik genau so gut verbirgt wie ich. Endlich ist es spät genug um nachhause zu gehen. 20 Meter vor meinem Wohnblock erwischen sie mich. Es war fast eine Falle, sie standen in der Dunkelheit neben einem Fahrradschuppen, ich hatte keine Chance sie zu sehen. Ich versuche gar nicht erst zu lächeln, vielleicht kann ich einen CLOWN täuschen, aber nicht die unbestechliche Maschine. Ich strecke meinen rechten Arm aus, er fühlt sich an wie ein Fremdkörper. Und die Nadel steigt, sie passiert die eins, die zwei, die drei, die vier.....
Und da entscheide ich mich. Ich werde mich nicht verhaften und behandeln lassen, ich werde weglaufen. Ich kenne das Prozedere. Sie werden nicht versuchen mir in ihren unförmigen Clownschuhen hinterherzulaufen. Sie werden mich zwei mal auffordern stehen zu bleiben. Und dann werden sie schießen. Ich habe schon mehr als einmal gesehen was dieses absurd große Kaliber einem menschlichen Körper antut. Ich werde als Mensch sterben, mit all meiner Traurigkeit, all meiner Einsamkeit, all meinen Ängsten, all den unerfüllten Wünschen und Träumen. Es ist ein Moment großer Klarheit, der Knoten in meinem Magen löst sich nach so vielen Jahren, ich bin entspannt, heiter fast, eine Große Last fällt von meinen Schultern während ich mich für den letzten Lauf meines Lebens vorbereite.

Und dann bleibt die Nadel bei 4,9 stehen und fällt dann rasch. Einer der CLOWNS grinst mich an und meint : „Na, hast du gerade an etwas wirklich lustiges gedacht?“
Und ich grinse zurück: „ Ja, in gewisser Weise“

Ich gehe in meine Wohnung und so endet auch dieser Tag.
Signaturen sind albern.

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Zigg

Re: Traurigkeitslevel 5

Beitrag von Zigg »

Was für eine unheimliche Zukunftsvorstellung.

Super! :good:
yes_or_no

Re: Traurigkeitslevel 5

Beitrag von yes_or_no »

Mich hat die Geschichte sehr stark gefesselt und ich find, du hast das alles super beschrieben und aufgebaut. Du hast wirklich Talent zum Schreiben und ne sehr interessante Fantasie, inklusive dem Mut, sich auch mit negativen Themen auseinander zu setzen. Find ich auch super :)
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Ringelnatz
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Re: Traurigkeitslevel 5

Beitrag von Ringelnatz »

Mega gut geschrieben und eine spannende Idee!
Wäre das ein Buch und ich hätte mal eben reingelesen (mache ich oft so), dann hätte ich es gekauft.
In a world where you can be anything, be kind.
LittleOne

Re: Traurigkeitslevel 5

Beitrag von LittleOne »

Du hast wirklich das Zeug zum Schriftsteller. Ich habe deine Geschichte vor einem paar Tagen gelesen und habe die Bilder immernoch vor Augen, die du mit deinen Worten sendest. Mach weiter :hierlang: :flirten:
Strange Lady
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Re: Traurigkeitslevel 5

Beitrag von Strange Lady »

LittleOne hat geschrieben: 01 Feb 2020 14:33 Du hast wirklich das Zeug zum Schriftsteller. Ich habe deine Geschichte vor einem paar Tagen gelesen und habe die Bilder immernoch vor Augen, die du mit deinen Worten sendest. Mach weiter :hierlang: :flirten:
Schriftsteller nicht - aber Drehbuchautor!!!!
Ich sehe ganze Filme vor meinem inneren Auge.
“Happiness is like a butterfly: The more you chase it, the more it will elude you. But if you turn your attention to other things, it will come and sit quietly on your shoulder.”
Henry David Thoreau
LittleOne

Re: Traurigkeitslevel 5

Beitrag von LittleOne »

Stimmt! :holy: :D